Diegesis: Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung (Dec 2022)

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Journal volume & issue
Vol. 11, no. 2

Abstract

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Diese Ausgabe von DIEGESIS untersucht die Aufmerksamkeit und das gedankliche Abschweifen beim Lesen von Erzählungen mit Hilfe von Begriffen der kognitiven Narratologie und der Allgemeinen Literaturwissenschaft. Während die jüngsten Fortschritte in den Kognitionswissenschaften und der interdisziplinären Aufmerksamkeitsforschung zu einem besseren Verständnis von attention und mind-wandering als mentale Prozesse und kulturelle Phänomene geführt haben, sind diese Themen in der Literaturwissenschaft noch immer ein aufstrebendes Forschungsfeld, das zu zahlreichen neuen Forschungsfragen zu führen verspricht. Die hier versammelten Beiträge sind das Ergebnis eines von der Studienstiftung des deutschen Volkes geförderten Kollegs, das von unseren Gastherausgeberinnen Sibylle Baumbach und Karin Kukkonen geleitet wurde. Die Artikel umreißen das Potenzial dieser Forschungsfragen für die zukünftige Erzählforschung, indem sie Analysen der beiden Prozesse bzw. Phänomene von attention und mind-wandering im Zusammenhang mit englischsprachigen, deutschen und russischen Erzähltexten anbieten. Die Ausgabe beginnt mit einer von Karin Kukkonen und Sibylle Baumbach gemeinsam verfassten Untersuchung, die vom aktuellen Forschungsstand zu mind-wandering und attention in den Kognitionswissenschaften und der kognitiven Literaturwissenschaft, hin zu einer Taxonomie der literarischen Mittel führt, die Aufmerksamkeit und Abschweifen beim Lesen literarischer Texte fördern oder hemmen können. Die weiteren Artikel konzentrieren sich auf verschiedene Aspekte dieser kognitiven Phänomene und bieten neue Ansätze für Analysen von race, Metafiktion, Erzählperspektive sowie Übersetzungsproblemen und skizzieren die Herausforderungen, die mit der empirischen Messung von Aufmerksamkeit bzw. dem Abschweifen bei Lesenden verbunden sind. Der Beitrag von Leonie Bartel untersucht die Poetik und Politik der „weißen Aufmerksamkeitsökonomien“ anhand einer Analyse von Harper Lees To Kill a Mockingbird. Der Beitrag von Amandus Hopfgarten und Theresa Krampe untersucht Zusammenhänge zwischen Lese-Aufmerksamkeit, Lese-Abschweifen und Metafiktion in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur und behandelt damit Texte, die von der kognitiven Narratologie bisher weitgehend vernachlässigt wurden. Jonas Wieschollek unterstreicht ebenfalls, wie wichtig es ist, das untersuchte Korpus zu erweitern und ein breiteres Spektrum nationaler Literaturen einzubeziehen, indem er die Schlüsselrolle des mind-wandering in Iwan Turgenjews Asja veranschaulicht und zugleich die Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Schlüsselkonzepten der kognitiven Literaturwissenschaft auf andere Literaturen herausarbeitet. Tina Ternes und Florian Kleinau schließlich erörtern auf der Grundlage einer empirischen Erhebung, ob und wie das Abschweifen der Gedanken beim Lesen von Literatur gemessen werden kann. Die Ergebnisse dieses Artikels legen nahe, dass das mind-wandering ein notwendiger Teil der Lektüre ist, der zum Textverständnis beiträgt (und es nicht behindert). Alle Beiträge konzentrieren sich nicht nur auf spezifische Analysen einer Reihe von literarischen Texten, sondern erproben auch neue Ansätze auf dem Gebiet der kognitiven Narratologie und regen zu weiteren Forschungen auf diesem Gebiet des Lese-Abschweifens und der Lese-Aufmerksamkeit an. Diese Ausgabe von DIEGESIS enthält außerdem ein Interview mit Lars Bernaerts über die Funktionsweise von Erzählzyklen und über transgenerische Narratologie. Eine Rezension von Marco Caracciolos Narrating the Mesh. Form and Story in the Anthropocene knüpft thematisch – wenn man so will – an unser Heft zu Erzähltheorie und Anthropozän an. Das interdisziplinäre Potenzial der Pragmatik als einer Disziplin, die Literaturwissenschaft und Linguistik (und Philosophie) miteinander verbindet, zeigt sich in der Rezension von Sandrine Sorlins The Stylistics of “You.” Second-Person Pronoun and its Pragmatic Effects. Ein Tagungsbericht schließlich präsentiert die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Begegnung, die 2021 an der Freien Universität Berlin stattfand und sich mit der Rahmung von Erzählungen innerhalb der vormodernen Textproduktion im Arabischen und in angrenzenden literarischen Traditionen befasste. Die Leser*innen von DIEGESIS werden also einmal mehr die Vielfalt aktueller Ansätze in unserer Zeitschrift wiederfinden: von den kognitivistischen und empirischen Ansätzen des Gastdossiers über narrative Gattungstheorie, narratologische Pragmatik und ecocriticism bis hin zu interkultureller und historischer Narratologie. Wir hoffen, dass Ihnen diese Vielfalt gefällt und dass Sie hier Anregungen für Ihre Arbeit finden – sowie Gründe, weitere Rezensionen oder kritische Antworten einzureichen, die zur Diskussion in diesem blühenden Feld der Erzählforschung beitragen. Viel Spaß beim Browsen! Matei Chihaia im Namen der Herausgeber*innen von DIEGESIS