Anafora (Jan 2021)

„Meine Trauer war (k-)eine Krankheit“? Achronologisches Erzählen einer anhaltenden Trauerstörung in Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt

  • Anna Maria Spener

DOI
https://doi.org/10.29162/ANAFORA.v8i2.11
Journal volume & issue
Vol. VIII, no. 2
pp. 457 – 475

Abstract

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Olga Grjasnowas Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) ist literaturwissenschaftlich bereits häufig hinsichtlich der Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung der Ich-Erzählerin Mascha untersucht worden. Demgegenüber wird hier eine Lesart der erst kürzlich als eigenständige Diagnose in die Revision der ICD-11 aufgenommenen anhaltenden Trauerstörung bemüht, da deren physische wie psychische Symptomatik zutiefst mit der narratologischen Darstellungsform des Textes verwoben scheint. Maschas infolge des Todes ihres Lebenspartners eintretende Trauer als Störung schreibt sich nicht allein auf inhaltlich-thematischer Ebene in den Text ein, sondern zugleich auffällig (auch visuell) als Störung der Struktur des Erzählens selbst. Während Mascha im Zuge ihres Israelaufenthalts, den sie antritt, um zu trauern, schließlich den Gedanken äußert, Israel „war kein Sanatorium“ und ihre „Trauer war keine Krankheit“, wird im Aufsatz dargelegt, inwiefern der Romantext und dessen entrückte, ja selbst sogar angehaltene Zeit vielmehr anstelle eines Sanatoriums zum Aushandlungsort der Trauer als Krankheit werden, als (raum-)zeitlich vager, letztlich gar seine eigene achronologische Zeitform generierender (ewiger?) Aufenthalt im Krankheitszustand. Der Roman endet offen und entgegen der restlichen präteritalen Narration im Präsens, das (Über-)Leben der Ich-Erzählerin bleibt aufgrund einer eventuell erlittenen Verletzung fraglich, allein die Trauer ist und bleibt präsent, d. h. anhaltend, in ihrer auch historischen Begründetheit, die sich bis in die (Erzähl-)Gegenwart hinein fortschreibt, und sich nicht als bewältigt, gar als geheilt respektive überhaupt heilbar erweist.

Keywords