Studies in Communication, Media (Mar 2024)

Qualität der Berichterstattung über sexuellen Kindesmissbrauch an der Odenwaldschule: Ein empirischer Vergleich zwischen Qualitäts- und Boulevardpresse

  • Nicola Döring,
  • Roberto Walter

DOI
https://doi.org/10.5771/2192-4007-2024-1-8
Journal volume & issue
Vol. 13, no. 1
pp. 8 – 37

Abstract

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Von einer qualitätsvollen Medienberichterstattung wäre gemäß Public-Interest-Modell der normativen Medientheorie zu erwarten, dass sie sexuellen Kindesmissbrauch (SKM) als relevantes soziales Problem regelmäßig auf die Agenda setzt und in einer qualitätsvollen Weise behandelt, die zur gesellschaftlichen Sensibilisierung und Problemlösung beiträgt. Vor diesem Hintergrund war es Ziel der vorliegenden Arbeit, erstmals die Qualität der SKM-Berichterstattung in der deutschsprachigen Presse zu analysieren. Die Analyse konzentrierte sich auf die Berichterstattung über SKM an der Odenwaldschule, da es sich um einen gut aufgeklärten Fall institutionellen Missbrauchs in Deutschland mit großer Tragweite und Medienresonanz handelt. Beantwortet werden sollten zwei Forschungsfragen: Welche etablierten journalistischen Qualitätskriterien (QK) erfüllt bzw. verletzt die SKM-Berichterstattung über die Odenwaldschule (F1)? Welche Qualitätsunterschiede gibt es in der SKM-Berichterstattung zwischen Qualitäts- und Boulevardpresse (F2)? Eine zweistufige bewusste Stichprobe von N = 325 Zeitungsartikeln über SKM an der Odenwaldschule (2010-2022; 23 Print- und Online-Zeitungen, 52.3 % Qualitätspresse, 47.7 % Boulevardpresse) wurde anhand eines Codebuchs einer Qualitätsanalyse unterzogen. Das deduktiv entwickelte und induktiv verfeinerte Codebuch bestand aus 12 formalen und 20 inhaltlichen Kategorien und zeigte eine hohe Reliabilität (Gwets AC1: 0.82 – 1.00). Die Datenanalyse erfolgte deskriptiv- und inferenzstatistisch mit der Software R. Die Studie ist präregistriert und alle Daten, Analyseskripte und Zusatzmaterialien sind auf OSF öffentlich zugänglich (https://osf.io/j5wcn). Es zeigte sich, dass in der SKM-Berichterstattung über die Odenwaldschule die meisten journalistischen QK erfüllt wurden, während gleichzeitig drei Qualitätsprobleme sichtbar waren: die mangelnde Thematisierung von Prävention und Intervention, eine sensationalistische Darstellung sowie die Nutzung unangemessener Begriffe (F1). Diese Probleme traten in der Qualitäts- und Boulevardpresse vergleichbar auf. Bei keinem Qualitätskriterium waren signifikante Unterschiede zwischen Qualitäts- und Boulevardpresse beobachtbar (F2). In Erweiterung des bisherigen Forschungsstandes zeigt die vorliegende Studie Verbesserungsbedarf in der SKM-Berichterstattung auf – und zwar in der Qualitäts- und Boulevardpresse gleichermaßen. Dass die Boulevardpresse nicht schlechter abschnitt, lässt sich damit erklären, dass sie in der Berichterstattung über SKM an der Odenwaldschule relativ häufig offen oder verdeckt auf Presseagenturmeldungen zurückgriff, deren Qualität in der Regel höher ist als bei der typischen boulevardesken Berichterstattung. Konsequenzen für die Forschung und Praxis werden diskutiert.