Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Jan 2003)

Von der Musiktheorie zum Tonsatz. Zur Geschichte eines geschichtslosen Faches

  • Ludwig Holtmeier

DOI
https://doi.org/10.31751/481
Journal volume & issue
Vol. 1–2, no. 1/1
pp. 11 – 34

Abstract

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Als Hugo Riemann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lehre von den kadenziellen Funktionen formulierte, legte er den Grundstein für das, was als ›Funktionstheorie‹ zum dominierenden Paradigma harmonischer Analyse in Deutschland werden sollte. Die deutsche Riemann-Rezeption verlief in der Folge in zwei idealtypisch darstellbaren Phasen: einer ersten, zwischen 1905 und 1920, die vor allem durch die Lehrbücher und Diskussionsbeiträge von Rudolf Louis, Georg Capellen, Bernhard Ziehn, Johannes Schreyer und Eugen Schmitz u.a. bestimmt wurde, und einer zweiten, die von Ernst Kurth beherrscht wurde. Niemals – weder vorher noch nachher – ist in Deutschland mehr über Musiktheorie geschrieben worden als in den Jahren zwischen 1900 und 1930. Von diesem Reichtum blieb nach dem Zweiten Weltkrieg nicht viel übrig. Während des Nationalsozialismus trat ein früheres Teilgebiet der Musiktheorie – der sog. ›Tonsatz‹ mit seinen praktischen Inhalten – an die Stelle des Ganzen und wurde darüber hinaus von der nationalsozialistischen Volksliedideologie überformt. Unter dem Einfluß des erklärten nationalsozialistischen Anti-Intellektualismus, durch Einflüsse der Jugendbewegung, getragen vom Geist des Wandervogels (einer Bewegung, durch die fast alle deutschen Musiktheoretiker seit August Halm kulturell und gesellschaftlich sozialisiert wurden) und schließlich durch die fast vollständige Verdrängung jüdischer Theoretiker (vor allem Kurth und Schenker) entstand die deutsche ›pragmatische‹ Nachkriegs-Musiktheorie. Sie wurde im wesentlichen von den Persönlichkeiten mitgeprägt, die den Niedergang des Faches im Dritten Reich mitzuverantworten hatten (Hermann Grabner, Wilhelm Maler und Fritz Reuter), und bewahrte sich eine bis auf den heutigen Tag spürbare Theoriefeindlichkeit.

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