Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Jan 2003)
Hörbarkeit der Musik des 20. Jahrhunderts. Dargestellt am Beispiel der Dodekaphonie
Abstract
Die Frage, bis zu welchem Grad die einzelnen Elemente in der Musik hörbar sein sollen, erscheint besonders in bezug auf die Musik des 20. Jahrhunderts brisant. Unter der klassizistischen Voraussetzung, alles an der Musik müsse restlos hörbar sein, wurde das Kriterium der Hörbarkeit oft gegen scheinbar nur erdachte musikalische Strukturen des 20. Jahrhunderts gewendet. Geschichte und Analyse des Hörbarkeitskriteriums zeigen jedoch, daß der Anteil des akustisch Unhörbaren, wie z. B. mathematische Strukturen oder virtuelle Konstruktionen, schon immer integrierender Bestandteil von Musik war. So steht beispielweise in der Dodekaphonie die Reihe als strukturbildende Determinante ebenso im wahrnehmungsästhetischen Hintergrund wie die funktionale Harmonik in tonaler Musik, welche sich dem Hörer eher in ihren Konsequenzen mitteilt. In beiden Fällen kann jedoch der Hörer über die rein sinnliche Erfahrung hinaus zu einer geistigen Durchdringung des musikalischen Materials fortschreiten. Um ein angemessenes Hören zu gewährleisten, müssen insbesondere bei Neuer Musik verschiedene Grade von Hörbarkeit berücksichtigt werden. An den ersten Takten der Gigue aus Schönbergs Suite für Klavier op. 25 werden zwei entgegengesetzte Hörweisen demonstriert: In den Takten 1–4 kann – nach einer hier erstmals vorgestellten Methode – die Reihe und ihre musikalische Ausformung Schritt für Schritt hörend nachvollzogen werden; die Takte 5–9 laden zu einem »Gruppenhören« ein, wie es von Stockhausen an seinem Klavierstück I demonstriert wurde. Wird das Kriterium der Hörbarkeit als ästhetisches Werturteil benutzt, ist zu bedenken, daß Genauigkeit (Ton-für-Ton-Hören) und intendierte Ungenauigkeit (Gruppenhören) zwei extreme, jedoch gleichwertige Positionen des Hörens darstellen, die unendliche Zwischenstufen erlauben.
Keywords