Forum: Qualitative Social Research (Jan 2023)

"Kleine Geschichten" als Forschungszugang. Reflexionen zum biografischen Erzählen aus einem ethnografischen Projekt mit geflüchteten Schüler*innen

  • Bettina Dausien,
  • Nadja Thoma

DOI
https://doi.org/10.17169/fqs-24.1.3784
Journal volume & issue
Vol. 24, no. 1

Abstract

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Auf Basis eines Projekts mit geflüchteten Schüler*innen werden drei Formen "kleiner" biografischer Erzählungen vorgestellt, die alternativ zur Methode des biografisch-narrativen Interviews als Forschungsansatz genutzt werden können: Beim angeleiteten Erzählen mithilfe pädagogischer Methoden ermöglichen niederschwellige Erzählanreize die Artikulation biografischer Erfahrungen und vielseitige Beteiligungsmöglichkeiten. Die anderen beiden Formen basieren auf ethnografischen Beobachtungen: Im Kontakt mit den Forscher*innen erzählten die Schüler*innen beiläufig kleine Geschichten, die Einblick in ihre biografische Situation und ihren Alltag gaben, ähnlich wie sie dies in Interaktion mit den Lehrer*innen taten. Diese erzählten den Forschenden ihrerseits Geschichten über Geschichten, die sie von den Jugendlichen gehört hatten. Voraussetzung war eine ausgedehnte ethnografische Feldphase, die einen sukzessiven Aufbau der Forschungsbeziehungen erlaubte. Die Forschenden wurden in die Erzählpraxen des pädagogischen Feldes einbezogen und konnten Erkenntnisse über deren Funktion gewinnen. Ein Ergebnis war, biografisches Erzählen nicht allein als Ausdruck einer individuellen Erfahrungsstruktur zu interpretieren, sondern auch als interaktive Zugehörigkeitsarbeit, die im pädagogischen Feld der Schule besonders relevant ist. Die Forschung mit "kleinen Geschichten" eignet sich besonders, wenn die Vulnerabilität der Forschungssubjekte (z.B. geflüchtete Jugendliche) hoch ist, der institutionelle Rahmen (z.B. Schule) freies Erzählen erschwert oder wenn die Voraussetzungen für die Artikulation der eigenen Perspektive in einem Feld stark differieren (z.B. Mehrsprachigkeit).

Keywords