Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Dec 2021)

Urlinie und Zwölftonreihe als Zeitgenossinnen

  • Martin Eybl

DOI
https://doi.org/10.31751/1141
Journal volume & issue
Vol. 18, no. 2
pp. 83 – 100

Abstract

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Mit Blick auf die konträren Positionen ihrer Autoren scheinen Urlinie und Zwölftonreihe – zwei Konzepte, die beide in die frühen 1920er Jahren datieren – eher die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als so etwas wie Zeitgenossenschaft zu dokumentieren. Die beiden Wiener Heinrich Schenker und Arnold Schönberg verfolgten auf den ersten Blick durchwegs gegensätzliche Ziele: Schönberg, ein Pionier der neuen Musik, trachtete die Komposition atonaler Musik weiterzuentwickeln und zu konsolidieren; Schenker, ein lautstarker Gegner der Moderne, versuchte die Funktionsweise tonaler Musik auf neue Art analytisch zu erfassen und deren unverrückbare Geltung ein für alle Mal festzuschreiben. Der Sommer 1921, in dem das erste Heft von Schenkers polemischer Zeitschrift Der Tonwille erschien und Schönberg als unmittelbare Reaktion auf antisemitische Angriffe einen Prototyp seiner Reihentechnik erfand, lässt jedoch die Gemeinsamkeit ihrer Bestrebungen wie in einem Brennglas hervortreten. Obwohl beide Musiker antisemitischen Umtrieben defensiv begegneten, um die Aufnahme ihres Werks nicht zu gefährden, fühlten sie die Mission, gerade als Juden die deutsche Kultur retten zu müssen und zu können. Dabei konvergierten zentrale Ideen und schufen zwischen beiden Theoretikern eine unbewusste Resonanz. Schenker und Schönberg verband die Vorstellung, dass (1) musikalischer Zusammenhang sich primär auf Tonhöhen bezieht, (2) Vertikale und Horizontale eng verbunden sind, (3) komplexe musikalische Strukturen sich aus nichts anderem als einfachen Keimzellen oder elementaren Bausteinen aufbauen und dass sich (4) die Fülle der musikalischen Zusammenhänge nicht unmittelbar hörend erschließt und es der Analyse bedarf, um sie vollends zu erfassen. Trotz dieser Entsprechungen besteht ein grundlegender Unterschied zwischen den Konzepten im Grundprinzip des Aufbaus. Während Schönberg die Ausdehnung eines Stückes als ein Nebeneinander von Bestandteilen, die additiv hinzutreten, auffasste, erklärte sie Schenker als ein Ineinander von Elementen, einem Prinzip der Insertion folgend. In view of the contrasting positions of their authors, Urlinie and twelve tone row – two concepts that both date to the early 1920s – seem to document the simultaneity of the non-simultaneous rather than contemporaneity. At first glance, the two Viennese musicians Heinrich Schenker and Arnold Schönberg pursued thoroughly contradictory goals: Schoenberg, a pioneer of new music, sought to further develop and consolidate the composition of atonal music; Schenker, a vocal opponent of modernism, attempted to analytically grasp the structure of tonal music in a new way and establish its immutable validity once and for all. The summer of 1921, however, when the first issue of Schenker's polemical journal Der Tonwille appeared and Schönberg invented a prototype of his serial technique as an immediate reaction to anti-Semitic attacks, allows the commonality of their aspirations to emerge clearly. Although both of them were defensive about anti-Semitic movements in order not to jeopardize the reception of their work, they felt the mission to have to and to be able to save German culture precisely because they were Jews. In the process, central ideas converged and created an unconscious resonance between the two theorists. Schenker and Schoenberg were united by the notion that (1) musical coherence relates primarily to pitches, (2) the vertical and the horizontal dimension of music are closely connected, (3) complex musical structures are built from nothing more than germ cells or simple elements, and that (4) the fullness of musical coherence is not immediately audible and requires analysis to fully grasp. Despite these correspondences, there is a fundamental difference between the concepts concerning the basic principle of construction. While Schoenberg understood the expansion of a piece as a juxtaposition of components that are assembled additively, Schenker explained it as a penetration of elements, following a principle of insertion.

Keywords