Ars & Humanitas (Dec 2016)
Die nomadische Reise der Theorie: Michel de Certeaus Theorie der Alltäglichkeit und die neuzeitliche Mystik
Abstract
Die Erfahrung der Migration bildet für Michel de Certeau (1925-1986) die Grundlage seiner Theorie der Alltäglichkeit, die als eine Kritik an der neuzeitlichen technokratischen Rationalität sowie an den herrschenden sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsmodellen des ausgehenden 20. Jahrhunderts gemeint ist und auch als solche gelten kann. In seinen historischen Studien zur Mystik der frühen Neuzeit beschreibt Michel de Certeau, wie die Mystiker als moderne Nomaden nicht nur durch Europa reisen, sondern dieses Reisen auch als eine Weise verstehen, sich dem herrschenden Machtdiskurs zu entziehen. Das Reisen der Mystiker über Grenzen hinaus ist sozusagen paradigmatisch für eine Gesellschaftstheorie von der Marge heraus, so dem ‚Anderen‘ Raum eröffnend. Die ausführliche Studie über die Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts kann so als der Hintergrund verstanden werden, vor dem Certeaus Theorie der Alltäglichkeit entfaltet wird, nämlich in seinem Buch L’invention du quotidien – ein Werk, das vor allem in den Vereinigten Staaten die neueren Kulturwissenschaften geprägt hat. In diesem Beitrag wird die These entfaltet und begründet, dass das Reisen des Mystikers in dieser Theorie als Paradigma vorausgesetzt ist. Der ‚gemeine‘ Mensch stellt den Ausgangspunkt dieses neuen theoretischen Modells dar. Von dort aus wird klar, dass jede Art der kulturtheoretischen Betrachtung sich mit dem unbestimmten und nicht-festen Ort der Theorie auseinandersetzen muss. Die Theorie selber wird in unserer Zeit nomadisch. So eröffnen sich Möglichkeiten, die Erfahrung der Migration auch für heute weiter auszuarbeiten.
Keywords