Zeitschrift für Praktische Philosophie (Jul 2024)

‘Divers’ divers denken

  • Christoph Rehmann-Sutter

DOI
https://doi.org/10.22613/zfpp/11.1.5
Journal volume & issue
Vol. 11, no. 1

Abstract

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Was kann die ‚dritte‘ Geschlechtsoption jenseits von ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ bedeuten? Auf der Grundlage der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 2017, welche die explizite Anerkennung einer dritten Geschlechtskategorie ‚divers‘ forderte, diskutiert dieser Beitrag die soziale Funktion von nichtbinären Geschlechtskategorien. Es argumentiert, dass die dritte Option nicht nur ein negativer Begriff ist, der beide traditionellen Geschlechter verneint. Sie muss auch als positive Kategorie (oder als Familie von Kategorien) gedacht werden, welche über eine Identifikation mit der Freiheit von traditionellen Geschlechtsidentitäten und Geschlechternormen gebildet ist. Die Kategorie ‚divers‘ kann deshalb keine einheitliche Identifikationskategorie sein. ‚Divers‘ soll vielmehr selbst als eine in sich diverse Kategorie gedacht werden – als ein offener Möglichkeitsraum. Wie weit kann aber die Diversifizierung der Geschlechtsidentität gehen? Der Beitrag argumentiert für eine kategorielle Pluralität der Geschlechtsanerkennung. Diese Position beinhaltet zwei Aussagen: (a) Die soziale, intersubjektive Geschlechteranerkennung braucht in der Tat Kategorien; eine vollständige Individualisierung von Geschlecht auch in dem Bereich ‚inter‘ ist nicht möglich und wäre auch nicht wünschbar. (b) Gesellschaften sollten es zulassen, dass die Geschlechtermatrix dynamisch erweitert wird, über nur zwei (oder nur drei) Kategorien hinaus. Die Gründe für diese Position werden in drei Schritten erklärt: (i) Die Pluralität von Geschlechtsidentitäten innerhalb des dritten Raumes ist eine soziale Tatsache, die zuerst einmal anerkannt werden muss. (ii) Pluralität innerhalb der dritten Geschlechtskategorie ist ethisch erforderlich, weil andere in sozialen Beziehungen ein Recht darauf haben, darüber anerkannt zu werden, als was sie gesehen werden wollen. Dieses Argument ergibt sich aus einer Rekonstruktion von Emmanuel Lévinas’ phänomenologische Ethik der Intersubjektivität. (iii) Aus der Dekonstruktion von Geschlechtsidentitäten in Werken von Judith Butler, Gundula Ludwig und Finn Mackay ist zu lernen, dass Geschlechtsidentitäten eine soziale Funktion haben: Sie machen Subjekte intelligibel, d. h. sie ermöglichen es anderen, sie zu ‚lesen‘. Deshalb müssen Geschlechtsidentitäten dem Leben des Individuums in Varianten auch vorgängig anerkannt sein und sie müssen eine Gemeinsamkeit für eine Mehrzahl von Menschen konstituieren.

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