Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Jun 2020)
Analyse des Werturteils – Analysen, wer urteilt?. ›Qualität‹ und Qualitätsmaßstäbe in der Musikforschung
Abstract
Der Beitrag stellt – 50 Jahre nach Carl Dahlhaus’ vieldiskutierter Schrift Analyse und Werturteil (1970) – erneut die Frage nach dem ästhetischen Wert(urteil). Im Anschluss an erstens eine Erörterung der ›Qualitätsfrage‹, die in Zeiten postkolonialer und feministischer Kritik an hegemonialen Diskursen von vielen für obsolet gehalten wird, sowie zweitens eine knappe Beschreibung der verschiedenen Ebenen eines ästhetischen Werturteils gilt es drittens den Zusammenhang von unterschiedlichen Qualitätsmaßstäben und musikalischer Analyse seit dem 19. Jahrhundert zu skizzieren. Viertens wird beispielhaft ein Blick auf Qualitätsurteile über Werke von Komponistinnen geworfen, um nach den jeweiligen Maßstäben zu fragen. Der abschließende Blick auf das 20. Jahrhundert und die Gegenwart weist auf eine Vielfalt möglicher Kriterien hin, die, so die Hypothese, bereits für die (fernere) Vergangenheit vorausgesetzt werden kann. Während das ›Werturteil‹ grundsätzlich eine mehr oder weniger positive oder negative Auszeichnung eines bestimmten Phänomens impliziert, mithin den Bezug zum Sprecher*innensubjekt herstellt, kann ›Qualität‹ außerdem auch, wertneutral, die Summe der spezifischen Eigenschaften eines Objekts meinen. Der Beitrag plädiert für die reflektierte Wiedereinführung der subjektiven Perspektive (und damit: des Werturteils) in Analyse und Musikhistoriographie, insbesondere auch dort, wo Geschlechterfragen berührt werden – im vollen Bewusstsein, dass es in der Kunst keinen absoluten Wertmaßstab gibt, dass Musik nicht, mit Virginia Woolf zu sprechen, »like sugar and butter« gewogen werden kann. Fifty years after Carl Dahlhaus’ much-discussed text Analyse und Werturteil (Analysis and Value Judgment, 1970), this article once again poses the question of aesthetic judgment. First, the article discusses the question of “quality,” often considered to be obsolete in times of postcolonial and feminist criticism, and, second, it provides a brief description of the different levels of aesthetic judgement. Third, it outlines the connection between different standards of quality and musical analysis since the nineteenth century. Fourth, an examination of quality judgements about works by female composers highlights the standards applied. The concluding perspective on the twentieth and twenty-first centuries points to a variety of possible criteria which, according to the author’s hypothesis, can already be assumed for the (more remote) past. While “value judgement” basically implies a more or less positive or negative distinction of a certain phenomenon, “quality” might also designate the sum of specific characteristics of an object, regardless of its value. The article pleads for a considered reintroduction of a subjective perspective (including value judgement) into analysis and music historiography, especially where gender issues are concerned – in full awareness that there is no absolute value standard in art, that music cannot be weighed “like sugar and butter,” to quote Virginia Woolf.
Keywords