Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Jun 2021)
»Schließlich waren alle Genies der Kunst immerhin doch Männer …«. Zum Geniebegriff bei Heinrich Schenker
Abstract
In seiner 1995 publizierten Dissertation zur ideengeschichtlichen Entwicklung von Schenkers Musiktheorie konnte Martin Eybl demonstrieren, dass das Konzept der Urlinie in enger Verbindung mit politischen Ideen entstand und im Kontext der politischen Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg eine paradigmatische Funktion einnahm. Für Schenker repräsentierte die durch Analyse offengelegte hierarchische Struktur des Tonsatzes ein Ordnungsgefüge, das ganz dem Ideal des von ihm in mehreren Schriften propagierten Herrschaftsmodells entsprach. Schenkers Weltbild war hierarchisch strukturiert, zugleich aber auch streng patriarchalisch. Angesichts der Tatsache, dass Schenker seine Theorie zu einer Zeit entwickelte, in der die alte bürgerliche Geschlechterordnung durch sich wandelnde Rollenbilder von Mann und Frau in Frage gestellt wurde, erscheint es plausibel, nicht nur einen Zusammenhang zwischen Urlinie und politischer Überzeugung, sondern auch einen Einfluss von Schenkers Geschlechterverständnis auf seine Theorie anzunehmen. Diese Annahme wird durch den ausschließlich männlich konnotierten Geniebegriff, der in Schenkers Theorie eine zentrale Rolle spielt, bekräftigt. Unter Heranziehung von diversen Quellen wie Schenkers Schriften oder Dokumenten aus seinem Nachlass möchte der Artikel dieser Annahme nachgehen und dabei die Frage behandeln, ob und inwieweit Schenker in seiner Lehre Strategien zur Konstruktion von hegemonialer Männlichkeit verfolgte. In his 1995 dissertation on the development on Heinrich Schenker’s music theory in relation to the history of ideas, Martin Eybl demonstrated that the concept of Urlinie developed in relation to political ideas and assumed a paradigmatic function in the context of political upheaval after World War I. In Schenker’s view, the hierarchical structure of tonal music revealed through analysis represents a structural order in perfect agreement with the ideals of the model of governance he had promoted in several of his writings. Schenker’s worldview was hierarchically structured, and at the same time also strictly patriarchic. Given that Schenker developed his theory at a time when the traditional bourgeois hierarchy of gender was being called into question by shifting roles for men and women, it seems reasonable to assume not only a relationship between his Urlinie and his political convictions, but rather also the influence of Schenker’s understanding of gender roles on his theory. This assumption is strengthened by the concept of the male genius, which plays a central role in Schenker’s theory. Drawing on various sources such as Schenker’s writings and documents from his literary estate, this article investigates this assumption, addressing the overall question whether and to what degree Schenker employed strategies to construct hegemonic masculinity in his theoretical discourse.
Keywords