Heidelberger Jahrbücher Online (Dec 2024)
Das Lebensende absehen – Prognosefindung als (palliativ-)medizinisches Erfordernis
Abstract
Gerade im Kontext inkurabler, fortschreitender Erkrankungen tritt die Frage nach der weiteren Prognose, zum Beispiel nach der verbleibenden Lebenszeitprognose, mit besonderer Dringlichkeit auf. „Wie viel Zeit habe ich noch?“, oder „Mit welchen Problemen und Belastungen muss ich im Rahmen dieser Erkrankung rechnen?“ sind dabei Fragen von Betroffenen, die nicht nur die existenzielle, allumfassende Dimension schwerer Erkrankungen verdeutlichen, sondern auch unmittelbar therapierelevante Auswirkungen haben („Macht diese Therapie noch Sinn, wenn das Lebensende sowieso absehbar ist?“). Dabei zeugt die Evidenz aus Studien davon, wie wenig valide medizinische Prognosefindung selbst in diagnostisch definierten Erkrankungssituationen gelingt (und wie unzureichend und unrealistisch vor allem die ärztliche Einschätzung hierzu ist) – dies umso mehr vor dem Hintergrund der Entwicklungen der modernen Onkologie einerseits und der divergenten gesellschaftlichen Haltung gegenüber lebenserhaltenden und lebensbeendenden Maßnahmen andererseits. Selbst die prognostische Einschätzung, ob sich ein Mensch bereits in der unmittelbaren, unumkehrbaren Versterbesituation befindet oder nicht, beruht in hohem Maße auf subjektiven (und damit potenziell unterschiedlich wahrnehmbaren) Kriterien. Dieser Beitrag soll einerseits aus (palliativ-)medizinischer Perspektive die Notwendigkeit der medizinischen Prognosefindung, aber auch die damit verbundenen enormen Schwierigkeiten im medizinischen Kontext, verbunden mit weiteren gesellschaftlichen und sozialen Einflussfaktoren, darstellen, in dem Versuch, die letzte Lebensphase, ihre Erfordernisse, und die Probleme der dort zu treffenden Entscheidungen besser verstehbar zu machen. Darüber hinaus sollen alternative Bewertungskonzepte in schweren Erkrankungssituationen aufgezeigt werden, die einen positiveren, toleranteren Umgang mit prognostischer Unsicherheit ermöglichen könnten.