Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Nov 2021)

»Von einem Mann gesungen ist sie so etwas vollkommen anderes«. Schuberts Winterreise in der Deutung von Sängerinnen

  • Thomas Seedorf,
  • Marc Bangert

DOI
https://doi.org/10.31751/1131
Journal volume & issue
Vol. 18, no. Sonderausgabe [Special Issue]
pp. 327 – 340

Abstract

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Schubert Winterreise war bis in die 1980er Jahre hinein eine Domäne tiefer Männerstimmen. Nach vereinzelten Vorläufern wie Peter Anders oder Peter Pears wurde der Zyklus erst seit Mitte der 1980er Jahre häufiger von Tenören gesungen und aufgenommen. Parallel zur wachsenden Präsenz von Tenören vollzog sich ein weiterer Paradigmenwechsel, indem zunehmend auch Sängerinnen wie Christa Ludwig oder Brigitte Fassbaender die Winterreise interpretierten. Sie konnten sich einerseits auf das Vorbild großer Liedsängerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Elena Gerhardt und vor allem Lotte Lehmann berufen und andererseits darauf verweisen, dass es in der Winterreise um grundlegende, nicht geschlechtsgebundene menschliche Erfahrungen geht. Von Männern gesungen bewegt sich die Singstimme in der Winterreise über weite Strecken in einem Tonraum unterhalb der Oberstimme des Klavierparts. Frauenstimmen hingegen singen in der notierten Oktavlage und damit entweder auf einer Ebene mit oder oberhalb der Klavierstimme, d. h. die Klangrelation zwischen Stimme und Klavier ist eine andere als in Interpretationen von Männerstimmen. An einigen Stellen entstehen durch nach unten oktavierte Ausführung der männlichen Gesangsstimme irreguläre Quartsextakkorde, die zwar aufgrund von wahrnehmungspsychologischen Phänomenen nicht als solche gehört werden, aber dennoch eine Ambiguität von Notation und Klang erzeugen. Diese Ambiguität entfällt bei der Ausführung in der notierten Oktavlage, die zugleich andere Beziehungen zwischen Stimm- und Klavierklang hervortreten lässt. Until the 1980s, Schubert’s Winterreise was usually sung by low male voices. Despite sporadic precursors such as Peter Anders or Peter Pears, the cycle had not been sung and recorded frequently by tenors before the mid-1980s. Contemporaneous to tenors’ growing interest, another paradigm change was initiated by female singers such as Christa Ludwig or Brigitte Fassbaender performing Winterreise. In doing so, they were able to rely, on the one hand, on the example of great female lieder singers of the first half of the twentieth century such as Elena Gerhardt and especially Lotte Lehmann; on the other, they were able to point out that Winterreise deals with basic human insights which are not gender-specific. Sung by male singers, the singing voice in Winterreise is predominantly positioned in a space below the upper voice of the piano part. Female voices, on the contrary, sing in the notated octave register, thus in the same register as the piano part or above it: the sound relation between voice and piano differs from performances by male voices. In some instances, an octave-transposed rendition of the male singing voice results in irregular 6/4-chords. Although the irregularity of these chords is not perceived due to psychological phenomena, they produce an ambiguity of notation and sound. This ambiguity is absent in performances that conform to the notated octave register, thus exhibiting different relations between the sounds of the voice and piano.

Keywords