Zeitschrift für Praktische Philosophie (Dec 2020)

Bildung und radikale Gewalt

  • Alex Aßmann

DOI
https://doi.org/10.22613/zfpp/7.2.3
Journal volume & issue
Vol. 7, no. 2

Abstract

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Stellt sich beispielsweise in Ermittlungsverfahren heraus, dass es sich bei solchen Terroristen und gewalttätigen Radikalen, die für schwere Gewalt- und Hassverbrechen zur Verantwortung gezogen werden, zugleich um formal hoch gebildete und qualifizierte Menschen handelt, dann reagiert die Öffentlichkeit oftmals besonders irritiert darauf. Unschwer ließe sich das auf eine weitverbreitete Auffassung zurückführen, wonach Bildung und Gewalt einander ausschlössen. Der vorliegende Essay geht hingegen von einer anderslautenden These aus. Diese besagt: Auch Radikalisierungsprozesse lassen sich als Bildungsprozesse beschreiben – und individuelle Radikalisierungsprozesse ließen sich auf diese Weise an vielleicht entscheidenden Punkten besser verstehen, als wenn man sie sich über Bezugsideologien, Gruppenstrukturen oder kritische Sozialisationsverläufe zu erklären versucht. Zwar greifen nur die wenigsten Radikalen auch zu gewaltsamen Mitteln, um ihre Ziele durchzusetzen. Doch selbst in solchen Fällen, argumentiert der Essay, wo es zur Gewaltanwendung kommt, widerspricht dies nicht zwingend der hier vertretenen These. Die Annahme, dass sich Radikalisierungsprozesse genauer noch als transformatorische Bildungsprozesse rekonstruieren lassen, könnte nicht nur eine Erklärung für das unausgesetzte Attraktionspotenzial bedeuten, über das die Radikalität selbst in Gesellschaften verfügt, die nicht vorrangig von gewaltsamen Konflikten oder materieller Not gezeichnet sind. Sie lässt sich zudem als produktiver Beitrag zu einer grundlagentheoretischen Debatte in der Extremismus- und politischen Gewaltforschung aufgreifen, in der das Konzept der Radikalisierung wegen seiner Gewaltgebundenheit, Subjektferne und seiner sicherheitspolitischen Agenda grundlegend in Frage gestellt wird. Doch vor allem möchte der Essay dazu anregen, sich vermehrt mit bildungstheoretischen Zugängen zum Phänomen der Radikalität auseinanderzusetzen; und zwar insbesondere auch dann, wenn dies selbst gewaltsame Formen mit einschließt. Auf diese Weise ließen sich womöglich neue und weiterführende Erklärungsansätze zur Genese von radikaler Gewalt entwickeln.

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