Zeitschrift für Praktische Philosophie (Jun 2017)

Individuelle Verantwortung für globale strukturelle Ungerechtigkeiten: Eine machttheoretische Konzeption

  • Tamara Jugov

DOI
https://doi.org/10.22613/zfpp/4.1.7
Journal volume & issue
Vol. 4, no. 1

Abstract

Read online

Der Beitrag entwickelt ein neues, machtbasiertes Verantwortungsmodell für die individuelle Verstrickung in globale strukturelle Ungerechtigkeiten. Er geht von dem Problem aus, dass die meisten Bedingungen für die Zuerkennung moralischer Haftbarkeitsverantwortung in Fällen der individuellen Verstrickung in globale strukturelle Übel nicht erfüllt sind: Wenn eine Person beispielsweise ein unter ausbeuterischen Bedingungen produziertes T-Shirt kauft, so ist diese Handlung für das Eintreten der strukturellen Ungerechtigkeit weder hinreichend noch notwendig, die Person hat die strukturell ungerechten Effekte ihrer Handlung häufig nicht intendiert und kann die Folgen ihrer Handlungen epistemisch nicht ausreichend gut überblicken. Nicht zuletzt ist ihre Partizipation an der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung unfreiwillig. Der Beitrag diskutiert, welche Lösung Iris Marion Young in ihrem Modell kollektiv geteilter Verantwortung für dieses Problem vorgeschlagen hat, und argumentiert, dass hier insbesondere in Hinblick auf das Kriterium der kausalen Relevanz Probleme bestehen bleiben. Davon ausgehend schlägt der Beitrag ein ergänzendes, machttheoretisch begründetes Modell der Zuerkennung moralischer Haftbarkeitsverantwortung vor: Verantwortung wird diesem zufolge nicht nur in Bezug auf einzelne Handlungen konzeptualisiert, sondern auch in Bezug auf die strukturell generierte und generalisierte Handlungsfähigkeit, die Personen aufgrund ihres Status in Regelsystemen gegenüber anderen Personen besitzen. In diesem Sinne wird einzelnen Personen Verantwortung nicht nur für die kausalen Effekte ihrer Handlungen, sondern bereits für die kausalen Effekte der Annahme ihrer sozialen Macht über andere übertragen. Ich argumentiere, dass Personen für ihre soziale Macht gegenüber anderen verantwortlich gemacht werden können, weil diese Macht die generalisierte Vorbedingung ihrer individuellen Handlungsfähigkeit darstellt und weil sie ihre sozial konstituierte Handlungsfähigkeit durch jegliches Handeln implizit annehmen. Soziale Macht wird Personen durch soziale Regeln übertragen: Auch dominierende Macht besitzt jemand, ohne dafür notwendigerweise etwas tun zu müssen. Sobald eine Person ausgehend von ihrer sozialen Macht handelt, reproduziert sie damit notwendigerweise die sozialen Konstitutionsbedingungen ihrer Macht über andere. Genauer stellt die Annahme ihrer sozialen Macht eine NESS-Bedingung in Hinblick auf die Reproduktion derjenigen strukturell ungerechten sozialen Regeln dar, die ihr Macht erst übertragen haben. Dabei können Personen meistens vorhersehen, dass die Annahme ihrer sozialen Macht, d.h. ihrer sozialen Statusfunktionen globale strukturelle Ungerechtigkeiten auf kausal relevante Art und Weise reproduziert. Obwohl die Annahme sozialer Statusfunktionen normalerweise unfreiwillig ist, kann Personen für diese kompensatorische Verantwortung übertragen werden, insofern sie die ungerechten Effekte dieser Annahme vorhersehen können. Da die Effekte unserer Statusannahme kausal und epistemisch kollektiv geteilt sind, schlage ich vor, diese Form der Verantwortung als eine kollektiv-geteilte zu verstehen. Um strukturellen Ungerechtigkeiten abzuhelfen, müssen Personen entsprechend dazu beitragen, handlungsfähige kollektive Akteure – d.h. gerechte politische Institutionen – zu bilden.

Keywords