Zeitschrift für Praktische Philosophie (Dec 2019)

Das demokratische Paradox des Flüchtlingsschutzes

  • Daniel Kersting

DOI
https://doi.org/10.22613/zfpp/6.2.3
Journal volume & issue
Vol. 6, no. 2

Abstract

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Moderne Demokratien formulieren den Selbstanspruch, dass sich alle, die von einem Gesetz betroffen sind, als dessen Urheber*innen verstehen können müssen. Doch im Zusammenhang von Flucht und Migration stößt die Realisierung dieses Anspruchs prinzipiell an Grenzen: Geflüchtete haben, obwohl sie existenziell betroffen sind, keine Möglichkeit, über die Gesetze ihres Ein- und Ausschlusses demokratisch mitzuentscheiden, denn sie gehören nicht zum demos. In der politischen Philosophie der Gegenwart wird diese Situation als demokratisches Paradox bezeichnet und es werden verschiedene Ansätze diskutiert, wie sich mit diesem Paradox in einer emanzipatorischen Weise umgehen ließe. Der vorliegende Beitrag nimmt diese Diskussion auf und erweitert sie um eine pragmatistische Perspektive auf Demokratie. Unter dieser Perspektive genügt es nicht, Demokratie bloß als eine Form legitimer Herrschaft im Sinne der ‚Volkssouveränität‘ zu verstehen. Vielmehr muss der Demokratiebegriff auch jene experimentellen Erfahrungs- und Lernprozesse einschließen, die politische Akteur*innen in ihrem Handeln durchlaufen und durch die sie die paradoxen Effekte der Demokratie auf unterschiedliche Weise zu bearbeiten lernen. Unter Rückgriff auf die pragmatistische Handlungs- und Wissenschaftstheorie von John Dewey und Charles S. Peirce wird gezeigt, dass der demokratische Prozess ein dialektischer Prozess ist, der sich über den ‚Umweg‘ des Dissenses und des Experiments einem Ideal der Inklusion schrittweise annähern kann. Um den pragmatistischen Ansatz zu entfalten und sein exploratives und kritisches Potenzial zu erproben, wird im Beitrag immer wieder auf konkrete politische Ereignisse Bezug genommen, allen voran auf die politischen Kämpfe der Geflüchteten selbst. Diese Kämpfe sind auch philosophisch aufschlussreich, weil sie an den paradoxen Effekten moderner Demokratien ansetzen und Praktiken ihrer möglichen Bearbeitung aufzeigen, an die die theoretische Reflexion anschließen kann. Zwar sind – so lautet das Ergebnis der Untersuchung – Grenzziehungen und Ausschlüsse im Politischen unvermeidbar. Doch kann ihre konkrete Erfahrung zum ‚Motor‘ demokratischer Lernprozesse werden, die ihrerseits die Perspektive auf eine Transformation der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Institutionen eröffnen.

Keywords