Diegesis: Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung (Dec 2014)

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Vol. 3, no. 2

Abstract

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Die klassische, aus dem Geist des Strukturalismus geborene Narratologie interessierte sich in erster Linie für synchrone Aspekte erzählender Literatur und versuchte, eine universal gültige Matrix erzählanalytischer Begriffe zu entwickeln. Die Geschichte des Erzählens ist aber auch eine Geschichte der sich wandelnden Formen des Erzählens. Wie lassen sich mit Hilfe aktueller narratologischer Konzepte sowohl die historische Vielfalt als auch der Wandel von Geschichten und Erzählweisen über die Epochen hinweg erfassen? Wie läßt sich ein kulturwissenschaftlich gefasster Formbegriff entwickeln, der es erlaubt, formale Eigenschaften von Erzählungen nicht als neutrale Gefäße zur Vermittlung variabler Inhalte, sondern als ihrerseits kultur- und epochenspezifisch geprägt zu begreifen? Die Beiträge dieses Hefts suchen nach Antworten auf diese Fragen und erörtern die Aussichten und Probleme einer „Historischen Narratologie“ aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Möglichkeiten des Konzepts einer historischen Semantik narrativer Formen werden am Beispiel von Erzähltexten sondiert, die teils in den Kontext der mittelalterlichen, teils in den der neueren Literaturen gehören. In Verbindung mit einer Reihe von exemplarischen Analysen bietet die vorliegende Ausgabe von DIEGESIS grundlegende Reflexionen zu verschiedenen methodologischen Aspekten einer sich für diachrone Fragen interessierenden Narratologie. In einem „Manifest“, das in „Zehn Thesen für eine mittelalterliche Narratologie“ mündet, zeigt Eva von Contzen, welche Probleme aus dem Versuch einer Anwendung der von der klassischen Narratologie entwickelten Konzepte auf mittelalterliche Texte resultieren und in welchem Sinne diese Texte und ihre Kontexte einen eigenen, d.h. spezifischen erzähltheoretischen Zugriff erfordern. Wie fruchtbar sich das Figurenmodell der kognitiven Narratologie für die Lektüre eines berühmten, schon vielfach untersuchten Textes nutzen lässt, der an der Schwelle zur Frühen Neuzeit steht, führt Silvia Reuvekamp am Beispiel des Romans Fortunatus (1509) en détail vor. Clemens Lugowskis Konzept einer „Motivation von hinten“ wird von Harald Haferland genutzt, um probehalber die Geschichte des Wandels einer narrativen Form, d.h. eine kleine Geschichte der „Finalität“ oder auch der „Durchschaubarkeit des Erzählens“ zu skizzieren, die von frühen Formen des mündlichen Erzählens bis in die Moderne reicht. Martin Klepper reflektiert die Voraussetzungen einer Theorie der Historischen Narratologie im Allgemeinen, wobei ihm u.a. der Fall des „Point of view“ als Beispiel dient. Caroline Frank entwirft die Prolegomena zu einer historischen Raum-Narratologie am Beispiel von drei autodiegetisch erzählten, zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert erschienenen Romanen, und Matthias Grüne führt u.a. am Beispiel des Konzepts ‚Erzähler‘ vor, dass es neben einer Geschichte des Erzählens auch eine Geschichte der Theorie des Erzählens gibt, die weit älter ist, als das vielfach dargestellt wird. In Ergänzung zu den hier präsentierten Ansätzen einer historischen Narratologie kommt im Interview mit dem Slawisten Wolf Schmid ein Narratologe zu Wort, dessen Arbeiten sich erklärtermaßen in der Tradition einer strukturalistisch-formalistisch akzentuierten Narratologie bewegen. Perspektiven für eine Narratologie der Zukunft eröffnet schließlich ein Gastbeitrag von David Herman. Er gilt den Möglichkeiten einer Art des Erzählens, die der Vielfalt des Lebens insofern Rechnung trägt, als sie sich nicht auf die Perspektive des Menschen im Sinne eines uns scheinbar so selbstverständlichen Anthropozentrismus beschränkt. Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine interessante Lektüre!