Wortfolge (Aug 2024)
„Die Grenzen der Grenzenlosigkeit“: Auf dem Weg zu einer ethischen Ästhetik in Lenka Reinerovás Grenze geschlossen (1958) und Alle Farben der Sonne und der Nacht (2003)
Abstract
Die jüdische „Prager deutsche“ Schriftstellerin Lenka Reinerová (1916–2008) wurde 2005 als “Kafka’s last living heir” bezeichnet. Trotz dieses ruhmreichen Erbes zweifelt man zuweilen am (literarischen) Wert ihrer Prosa. Die gegenwärtige Statistik der UNHCR für Flüchtlinge, die explizit Vergleiche zur weltweiten Flüchtlingslage nach dem Zweiten Weltkrieg zieht, zwingt jedoch zu einem erneuten Lesen von vielen Werken Reinerovás, einschließlich der beiden, die in diesem Artikel analysiert werden sollen, Grenze geschlossen (1958) and Alle Farben der Sonne und der Nacht (2003). Die jüngsten Stimmen der Critical Refugee Studies (CRS) und Border Studies wollen die Grenzerfahrungen von am Rand stehenden und gefährdeten Gruppen ans Licht bringen. In den zwei hier behandelten Werken begegnet die als überzeugte Kommunistin auftretende Ich-Erzählerin geschlossenen Grenzen – in der Form von Landesgrenzen, Gefängnismauern und Ideologiengrenzen – die dann aufgelöst werden. Eine Brücke zu Reinerovás Werk zu schlagen, kann die gegenwärtige Diskussion über Grenzpoetik bereichern. Statt einem andauernden Misstrauen Grenzen gegenüber zu verfallen, zeigt Reinerová, dass Grenzenlosigkeit wieder eingegrenzt werden muss. Mit ihrem scheinbar nostalgischen Blick auf die Vergangenheit erinnert sie ihre Leser*innen daran, dass Menschen Traditionen des Denkens und der Taten angehören, auch wenn sie bedrängt, umstritten, angeschlagen sind, und dass manches gerettet und erneuert werden soll.
Keywords