Textes & Contextes (Jul 2022)

Die Ausstellungskopie als anachronistisches Geschichtsmodell

  • Annette Tietenberg

DOI
https://doi.org/10.58335/textesetcontextes.3573
Journal volume & issue
no. 17-1

Abstract

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Anhand unterschiedlicher Rekonstruktionen des Kabinetts der Abstrakten, das erstmals 1927 von dem russischen Gestalter und Künstler El Lissitzky gemeinsam mit Alexander Dorner, Direktor der Gemäldegalerie, in Hannover verwirklicht wurde, wird die Frage nach dem Zeitbegriff gestellt, der Ausstellungskopien inhärent ist. Die Rekonstruktionen tangieren das Konzept der Volksbildung in der Weimarer Republik, die zeitbezogenen Methoden zur Aktivierung der Betrachter*innen und die Präsentationsmodi einer Kunst, die sich unter den in den 1920er Jahren allgegenwärtigen Wahrnehmungsgewohnheiten, die vom Kino und von Zeitschriften und Werkeplakaten geprägt waren, als ‚aktuell‘ zu behaupten versucht. Vorgeschlagen wird eine Interpretation der Ausstellungskopie als Anachronismus, der die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Künftigem künstlich zusammenführt. Indem Ausstellungskopien Geschichten erzählen, die aus Zeitmontagen bestehen, erinnern sie an einstige Zukunftsphantasien, zeugen von Verlust und Zerstörung, erzählen vom Erkenntnisinteresse ihrer Entstehungszeit und rufen – im Sinne einer „l’histoire à venir“ – die Vorstellung von kommenden historischen Entwicklungen wach.