Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Nov 2021)
Das Hörbar-Machen von zyklischen Potentialen in der musikalischen Interpretation. Eduard Steuermanns Live-Mitschnitt der ›Diabelli-Variationen‹ vom 13. Mai 1963
Abstract
Ausgangspunkt des Beitrags ist ein doppelter: einerseits eine Erörterung der Frage des Zyklischen und Anti-Zyklischen und des Konfliktverhältnisses von Totalität und Fragment im Sinne von Hegel und Novalis, andererseits eine Überlegung zur ›Stimmschrift‹ bei Novalis, demzufolge jedes Notat von Beethoven, wie die Skizzen und der fertiggestellte Partiturtext der ›Diabelli-Variationen‹ op. 120, immer Schrift sind und zugleich die Stimme des Autors verraten, womit Skripturalität und Oralität in eins gehen. Es geht also aus der Schrift ein oral-mimetischer Vorgang hervor, der als Subtext den gedruckten Text begleitet. Vergleichsweise wird dies auch bestimmend für die aus der performativen Praxis von Eduard Steuermann hervorgegangenen Eintragungen in seinem Handexemplar der ›Diabelli-Variationen‹ und seinen analytischen Notizen zu diesem Werk, aus denen auch Konsequenzen für seine klingende Interpretation gezogen werden. Für Steuermann ist die Zeitproportion zwischen den einzelnen Variationen und dem raschen Walzerthema sowie zwischen den einzelnen Variationen zentral, und er sucht dabei einen weitgehend durchgehenden Puls, wie er auch für die Ausgabe des op. 120 von Artur Schnabel und für dessen Einspielung maßgeblich war. Schließlich wurde die proportionale Verkürzung der 16 Takte des Walzers auf acht bzw. vier Takte gerade in den Schluss-Variationen für Steuermann von höchster Bedeutung, weil sie eine intrinsische Beschleunigung zur Folge haben. The starting point of this article is twofold. On the one hand, regarding the question of the cyclical and the anti-cyclical, the discussion explores the conflicting relationship between totality and fragment in the manner of Hegel and Novalis. On the other hand, it applies the concept of “voice writing” (Stimmschrift) in Novalis, according to which every notation by Beethoven, such as the sketches and the completed score of the “Diabelli Variations” Op. 120, are always writing and at the same time betraying the author’s voice, which means that scripturality and orality go hand in hand. An oral-mimetic process emerges from the writing, which accompanies the printed text as a subtext. In comparison, this is also decisive for the annotations in Eduard Steuermann’s handwritten copy of the “Diabelli Variations,” resulting from his performative practice, and his analytical notes on this work, from which one may draw implications for ahis interpretation in performance. For Steuermann, the proportion of time between the individual variations and the rapid waltz theme as well as between the individual variations is of central importance; in his reading, he looks for a largely continuous pulse, a concept which was also decisive for Artur Schnabel’s edition and recording of Op. 120. Finally, the proportional shortening of the sixteen measures of the waltz to eight or four measures, especially in the final variations, became extremely important for Steuermann, because they result in an intrinsic acceleration.
Keywords