Studies in Communication, Media (Nov 2016)

Einflussfaktoren auf die Mediennutzung der Unterschichten im deutschen Kaiserreich (1871–1918)

  • Felix Frey

DOI
https://doi.org/10.5771/2192-4007-2016-3-241
Journal volume & issue
Vol. 5, no. 3
pp. 241 – 306

Abstract

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Kommunikationshistorisch lässt sich ein wesentlicher Zug der Entwicklung des Mediensystems im deutschen Kaiserreich als „Entfesselung der Massenkommunikation“ (Wilke, 2008) beschreiben. Im Zuge dessen wurden auch die Unterschichten Teil des entstehenden Massenpublikums. Eine Erklärung der Ausweitung der Mediennutzung auch dieser Schichten ausschließlich durch ökonomische Faktoren griffe jedoch zu kurz. Ziel des Beitrags ist deshalb die systematische Aufarbeitung der sozial- und kommunikationsgeschichtlichen Literatur im Hinblick auf verschiedene Dimensionen unterschichtlicher Soziallage und Mentalität, die einen Beitrag zur Erklärung des Mediennutzungsverhaltens der Unterschichten und dessen Veränderung leisten können. Wesentliches Ergebnis ist dabei, dass sich die soziale Lage großer Teile der Unterschichten im Verlauf des Kaiserreichs im Sinne einer Erweiterung des Handlungsspielraums für die Mediennutzung veränderte. Ihre ökonomische Lage verbesserte sich und die Verfügbarkeit kostengünstiger oder gar kostenloser Medienangebote nahm zu, ebenso der Alphabetisierungsgrad und die Sprachkompetenzen, sowie für einige unterschichtliche Sozialkategorien auch das Budget an verfügbarer Zeit. Zum Ende des Kaiserreichs war damit die Möglichkeit zur Medien- nutzung auch für Angehörige der Unterschichten im Großen und Ganzen gegeben, wenn auch nicht im selben Ausmaß wie für die Mittel- und Oberschicht. Für die individuelle Mediennutzung wurden daher mediennutzungsrelevante Bedürfnisse, Interessen, Werte und Einstellungen ausschlaggebender. Auch hier wirkten im Verlauf des Kaiserreichs, bei allen notwendigen Differenzierungen innerhalb der Unterschichten, einige Entwicklungen auf eine Ausweitung und Intensivierung der Mediennutzung hin: Soziale und geographische Mobilisierung sowie die politische Mobilisierung größerer Teile der Unterschichten unter anderem durch die politische Arbeiterbewegung steigerten das Informations- und Orientierungsbedürfnis. Medien boten Kompensation für soziale und ökonomische Deprivation sowie physische wie geistige Enge. Außerdem bauten sich Bildungsskepsis und Schwellenängste der Lektüre gegenüber durch die Aktivitäten der Arbeiter- und Volksbildungsbewegungen und durch Kontakt mit Angehörigen lektüreaffiner Schichten ab.Hemmend auf die Mediennutzung wirkten sich hingegen das in einigen Unterschichtenmilieus fortbestehende Prinzip der familiären Selbstausbeutung, die Bevormundung durch Arbeitgeber und gesellschaftliche Institutionen, eine geringere Politisierung und der Traditionalismus aus. Diese Faktoren trafen insbesondere auf ländliche und weibliche Angehörige der Unterschichten zu, die zusätzlich auch den stärksten sozioökonomischen Beschränkungen unterworfen waren.