Jahrbuch Musikpsychologie (Jul 2019)
Spiel nach Gehör auf der Violine – Wie beeinflusst musikalische Vorerfahrung die Imitation kulturell vertrauter und fremder Melodiemuster?
Abstract
Spiel nach Gehör ist eine wesentliche, doch vielfach vernachlässigte musikalische Grundfertigkeit. Nach dem Modell mentaler Repräsentationen musikalischer Performanz basiert Spiel nach Gehör auf der Klangvorstellung (goal imaging) und der sensomotorischen Umsetzungsfähigkeit (motor production). Die Klangvorstellung bildet sich beim Spiel nach Gehör rein aus Inhalten des auditiven Arbeitsgedächtnisses. Bisherige Erkenntnisse zeigen, dass Musikerinnen und Musiker aus Bereichen der Volks- und Popularmusik bessere Fähigkeiten im Spiel nach Gehör haben als ‚klassisch‘ ausgebildete. Untersuchungen zum Spiel nach Gehör von Violinistinnen und Violinisten unterschiedlicher Vorerfahrung, speziell in den Bereichen ‚Klassik‘ und Jazz, fehlen bislang. Darüber hinaus sind keine Untersuchungen zur melodischen Imitation von Stimuli aus vertrauten und fremden Musikstilen bekannt. Es wurden westliche Studierende (N = 29) mit Instrument Geige/Bratsche in ihren Fähigkeiten im Spiel nach Gehör anhand zweier unbekannter Melodien aus drei unterschiedlich vertrauten Musikstilen (westlich, jazzig, indisch) getestet. Allen Teilnehmenden war westliche Kunstmusik gut vertraut, die Hälfte von ihnen hatte zusätzlich musikpraktische Vorerfahrungen im Jazz, indische Kunstmusik war den westlichen Musikstudierenden am wenigsten vertraut. Es wurde (a) die Jazzerfahrung in Jahren erhoben, (b) die akkumulierten Übungsstunden als Indiz für motorische Umsetzungsfertigkeit per Fragebogen gemessen und (c) die Klangvorstellung daran bestimmt, wie gut eine unbekannte Melodie nach Gehör auf Notennamen wiedergegeben wurde. Somit misst die Klangvorstellung bei uns eine Integration von melodischer Merkfähigkeit und analytischem Hören – von implizitem und explizitem musikalischem Wissen. Einflüsse musikalischer Vorerfahrungen auf die per Expertenrating gemessenen Leistungen im Spiel nach Gehör in den drei unterschiedlich vertrauten Musikstilen wurden regressionsanalytisch untersucht. Die drei unabhängigen Variablen (a) bis (c) korrelierten nicht untereinander. Unsere Ergebnisse zeigen, dass im vertrauten westlichen Musikstil die akkumulierten Übungsstunden dicht gefolgt von der Klangvorstellung der beste Prädiktor für gute Leistungen im Spiel nach Gehör sind, während Erfahrungen im Jazz irrelevant sind. Bei den jazzigen Melodien wirkt sich besonders Jazzerfahrung in Jahren neben Klangvorstellung positiv auf Leistungen im Spiel nach Gehör aus. Jazzstreicher erwerben folglich die für das Spiel nach Gehör erforderliche motorische Umsetzung weniger beim Üben alleine, sondern über andere jazztypische Praktiken. Im wenig vertrauten indischen Musikstil unterstützt mit Abstand am besten die Klangvorstellung das Spiel nach Gehör. Musikstilübergreifend haben somit die Klangvorstellung und die akkumulierten Übungsstunden einen wichtigeren Einfluss auf Leistungen im Spiel nach Gehör als Jazzerfahrung. Unsere Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass speziell die Klangvorstellung das Spiel nach Gehör und insbesondere eine Teilhabe im transkulturellen Kontext unterstützt. ‚Klassiker‘ und Jazzer erwerben die für das Spiel nach Gehör erforderliche motorische Umsetzungsfähigkeit langfristig auf kulturspezifische Weise und können sie im vertrauten Musikstil besser abrufen. Die westliche Musikpädagogik müsste die Integration von hörbasierter Spielpraxis und musikalischem Verstehen, insbesondere die Ohr-Hand-Koordination in unterschiedlichen Anwendungssituationen stärker fokussieren. Dies ermöglicht die Teilhabe an einer breiten Vielfalt kultureller Stile und kreativer Praktiken. Zukünftige Forschungen sollten weitere Einflussfaktoren auf die wichtige Grundfertigkeit des Spiels nach Gehör untersuchen, die ein wesentlicher Faktor für die Ausbildung einer umfassenden Musikalität und die langfristige Motivation im Instrumentalunterricht ist.
Keywords