Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Dec 2019)
New Sources and Old Methods. Reconstructing and Applying the Music-Theoretical Paratext of Johann Sebastian Bach’s Compositional Pedagogy
Abstract
In attempting to determine how Johann Sebastian Bach taught composition, this article draws on recent archival discoveries to claim that it was not the ornamented, vocal Choralgesänge, but the simpler, thoroughbass-centered Choralbuch style that played a central role in Bach’s pedagogy. Fascinatingly, many newly-rediscovered chorale books from Bach’s milieu contain multiple basses under each melody, suggesting that Bach too may have employed this technique. What theoretical perspectives shall we bring to bear on this long-lost multiple-bass chorale tradition? This article asserts that it is a fallacy to assume that any pattern-yielding methodology offers a valid window into Bach’s teaching. Rather, an attempt is made to recover modes of music-theoretical understanding that existed contemporaneously with Bach. Such a coterminous theoretical “paratext” potentially offers more insight into Bach’s pedagogy because it establishes a horizon of possibilities from which we can draw when examining multiple-bass composition. Foremost within this paratextual horizon is the centrality of thoroughbass for Bach’s understanding of composition. In particular, Bach was immersed in the pre-Rameau thoroughbass tradition as represented by the writings of Johann David Heinichen. In contrast to many modern harmonic perspectives, chordal roots and root progressions played little to no role in the pre-Rameau thoroughbass tradition. Dissonance was understood not harmonically, but dyadically in terms of syncopatio (suspension) and transitus (passing and neighbor) figures. Drawing from a variety of sources from Bach’s circle, particularly those of his pupil, Johann Christian Kittel, this article posits that Bach may have understood multiple-bass chorale harmonization in terms of interlocking clausulae – that is, as a series of overlapping cadential modules. In sum, this article contributes to an ongoing revisionist project of recent years that aims to elevate early eighteenth-century thoroughbass from mere “pre-theoretical” accompaniment practice to its true place as the theoretical and practical basis of compositional understanding in Bach’s day. In der Absicht zu rekonstruieren, wie Johann Sebastian Bach Komposition unterrichtete, und ausgehend von Archivfunden aus jüngster Zeit stellt dieser Artikel die Behauptung auf, dass nicht die reich ausgestalteten, vokalen Choralgesänge, sondern der einfachere, generalbassbasierte Choralbuch-Stil in Bachs Pädagogik eine zentrale Rolle spielte. Faszinierenderweise enthalten viele neu aufgefundene Choralbücher aus Bachs Umfeld mehrere Bassstimmen unter jeder Melodie, was nahelegt, dass auch Bach diese Technik angewandt haben könnte. Welche theoretischen Perspektiven sind aus dieser lange Zeit aus dem Blick geratenen Tradition des Choralsatzes mit multiplen Bässen abzuleiten? Dieser Artikel bezweifelt, dass eine auf historisch späteren Denkweisen basierende Methodik tragfähige Perspektiven auf Bachs Unterricht gewähren kann. Stattdessen wird versucht, musiktheoretische Konzepte nutzbar zu machen, die aus Bachs Zeit stammen. Solch zeitgenössischer theoretischer »Paratext« bietet möglicherweise einen besseren Einblick in Bachs Pädagogik, da er einen Horizont von Möglichkeiten bietet, auf die man sich bei der Betrachtung der Komposition mit multiplen Bässen beziehen kann. Besonders wichtig ist die zentrale Rolle, die innerhalb dieses paratextuellen Horizonts der Generalbass für Bachs Verständnis von Komposition spielt. Insbesondere war Bach von der vor-Rameau’schen Generalbasstradition geprägt, wie sie in den Schriften Johann David Heinichens repräsentiert ist. Anders als viele moderne, von der Harmonielehre informierte Zugänge spielten Akkordgrundtöne und Grundtonfortschreitungen in der vor-Rameau’schen Generalbasstradition kaum eine bzw. gar keine Rolle. Die Dissonanz wurde nicht harmonisch, sondern als zweistimmiges Phänomen, als syncopatio (Vorhalt) oder transitus (Durchgang oder Nebennote) verstanden. Auf der Grundlage einer Auswahl von Quellen aus Bachs Umkreis, besonders denen seines Schülers Johann Christian Kittel, postuliert dieser Artikel, dass Bach die auf multiplen Bassstimmen basierende Choralharmonisierung im Sinne ineinandergreifender Klauselkombinationen, also als eine Folge einander überlappender Kadenzmodule verstanden haben könnte. Im Ergebnis trägt dieser Artikel zu einem seit einigen Jahren laufenden Projekt bei, das darauf abzielt, den Generalbass des frühen 18. Jahrhunderts vom Status einer bloßen ‚vor-theoretischen‘ Begleitpraxis zu befreien und ihn in seiner wahren Bedeutung zu würdigen, die ihm als der theoretischen und praktischen Grundlage des Verständnisses von Komposition zur Bach-Zeit zukommt.
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