Zeitschrift für Praktische Philosophie (Jun 2020)

Willensfreiheit als existenzielle Praxis

  • Matthias Richter

DOI
https://doi.org/10.22613/zfpp/7.1.3
Journal volume & issue
Vol. 7, no. 1

Abstract

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Vor der Moderne noch wurde die Frage des freien Willens meist im Lichte des gelingenden Lebens und damit auch eines ‚guten‘ oder ‚vernünftigen‘ Willens gesehen. Damit war die Frage des freien Willens zugleich eine Frage der Beziehung zu existentiell erfahrbaren Werten wie dem ‚Guten‘ oder ‚Gott‘ bzw. zum anderen als Selbstwert. Heute, in Zeiten der Individualisierung und Zweckrationalisierung, neigen wir jedoch dazu, die Frage der Willensfreiheit isoliert von unseren Wert-Beziehungen als zweckrational-einsame Entscheidung zu betrachten. Im vorliegenden Artikel soll gezeigt werden, inwiefern diese Engführung des Handlungsbegriffs bei einem durchaus zentralen Punkt der aktuellen Freiheitsdebatte entscheidend sein kann: Nämlich, ob wir auch hätten anders handeln können, als wir faktisch gehandelt haben. Der strenge Naturalismus blickt bei dieser Frage der ‚kontrafaktischen Handlungsalternative‘ auf das einsame Subjekt und neigt dazu, dieses auf einen psychophysischen Zustand zu reduzieren. Es ist diese Hinsicht, durch die uns der Naturalismus unser Handeln vor die irreführende Alternative zwischen Determinismus und Willkür stellt – eine wirklich freie Handlung kann so aber nicht sinnvoll vorgestellt werden. Blicken wir stattdessen aus existentieller Perspektive auf die Frage der Willensfreiheit, dann werden wir auf eine bestimmte zwischenmenschliche ‚Praxis‘ verwiesen, wie Personen sie insbesondere im ‚Versprechen‘ und ‚Verzeihen‘ anschaulich vollziehen. In Akten des Versprechens und Verzeihens wenden wir uns an unser Gegenüber als absoluten Wert bzw. Selbstwert. Mit dieser existentiellen Zuwendung öffnen wir einen zwischenmenschlichen Raum, der sich nicht mehr auf einen determinierten psychophysischen Zustand reduzieren lässt. Hier zeigt sich uns eine kontrafaktische Handlungsalternative in freier Bestimmtheit, die die irreführende naturalistische Alternative von Determinismus und Willkür kategorial überwindet.

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