Raumforschung und Raumordnung (Jun 2024)

Planungsprobleme als epistemische Probleme. Anmerkungen zur Debatte über multiple Wahrheiten in der Planung

  • Christoph Sommer

DOI
https://doi.org/10.14512/rur.2562

Abstract

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How should planning deal with the “brutal plurality of truths” (Davy/Levin-Keitel/Sielker 2023). This is a relevant but also controversial question. In this commentary section, Gerd Lintz pointed out that a “broad concept of truth and knowledge” might undermine the ability to cope with the climate and biodiversity crisis in terms of planning (Lintz 2024). Leaving aside the supposed risks of a social-constructivist dilution of the concept of truth, this commentary focuses on planning challenges that go hand in hand with an “epistemization of the political” (Bogner 2021). Epistemization refers to the challenge of how knowledge comes about and by whom it is produced. At the planning level, the question arises as to where and why various forms of truth and knowledge production are increasingly becoming a problem. For example, it is necessary to deal with the (de)politicizing effects of data-driven spatial development, the denial of planning expertise or the suppression of deliberative procedures for plan qualification. Such “knowledge conflicts” must be reflected upon in planning science—especially in interdisciplinary and transdisciplinary research and work contexts. Die Frage, wie Planung – theoretisch und praktisch – mit der gegenwärtigen „brutal plurality of truths“ (Davy/Levin-Keitel/Sielker 2023) umgeht, ist unbestritten dringlich. Bemerkenswert sind allerdings die divergierenden Schlussfolgerungen, die Benjamin Davy, Meike Levin-Keitel und Franziska Sielker sowie Lintz (2024) im Hinblick auf die herausfordernden multiplen Wahrheiten ziehen. Während Benjamin Davy, Meike Levin-Keitel und Franziska Sielker vorschlagen, Polyrationalität als Modus planerischer Praxis analytisch ernst zu nehmen und für eine bedachte pluralistische Planungstheoriebildung werben, nimmt Gerd Lintz deren Artikel zum Anlass, um eindringlich vor einer Art postmodernem Relativismus zu warnen. Problematisch sei der „weite Wahrheits- und Wissensbegriff“ (Lintz 2024: 2) unter anderem deshalb, weil er intersubjektiv überprüfbares Wissen tendenziell abwerte und damit interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Natur‑, Ingenieur‑, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften erschwere. Nicht nur das, auch transdisziplinäre Forschung wäre unter der Annahme beliebiger Realitätsvorstellungen kaum vorstellbar. Gerd Lintz’ Generalabrechnung mit vermeintlich beliebigen postmodernen Wahrheitsverständnissen erinnert ein bisschen an die Science Wars der 1990er-Jahre. Bei diesen ging es – stark vereinfacht gesprochen – um eine Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftssoziologen und Naturwissenschaftlern. Erstere hinterfragten die Machart wissenschaftlicher Wahrheit, letztere verwahrten sich gegen einen postmodernen Relativismus (vgl. Grolimund 2018). Inwiefern ein weiter Wissens- und Wahrheitsbegriff nun dem planerischen Problembewusstsein für Klima- und Biodiversitätskrise abträglich ist, kann man diskutieren. Hier soll jedoch ein Aspekt vertieft werden, den Gerd Lintz gar nicht in Abrede stellt und den Benjamin Davy, Meike Levin-Keitel und Franziska Sielker als Polyrationalität der planerischen Praxis thematisieren. Zunächst sei angenommen, dass „alle, sowohl die Wissenschaftler in den ‚harten’ als auch in den ‚weichen‘ Wissenschaften, Politiker und Anwender, […] ein berechtigtes Interesse daran haben, eine möglichst realistische Einschätzung dessen zu erlangen, was die Wissenschaften können und was nicht“ (Latour 1998: o.S.). Planerinnen kann man dieses Interesse guten Gewissens unterstellen, sie hantieren traditionell mit verschiedenen Wissensformen und müssen permanent die Reichweite und Stichhaltigkeit eigensinniger planungsrelevanter Wissensbestände bewerten. Diese planerische Wissens- bzw. Wahrheitskompetenz wird – so die These – wichtiger werden. Und zwar vor dem Hintergrund eines Trends, den Alexander Bogner (z. B. 2021) auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als „Epistemisierung des Politischen“ diagnostiziert. Die Debatte um „Fake News“ und „Post Truth“ zeige, so Bogner (2022), wie sehr die Diskussion über die Krise der Demokratie, Partizipation und Polarisierung gegenwärtig mit den Themen Wissen, Wahrheit und Expertise verknüpft werde. Die Tendenz, politische Probleme auf epistemischer Ebene zu reformulieren, nimmt dabei ganz verschiedene Formen an. Man denke beispielsweise an politischen Machterhalt durch gezielte Desinformation, die selbstgerechte Realitätsverweigerung der Querdenker oder das Diktum „Trust the Science“. Aufgrund von letzterem sehen manche in den Klimabewegungen sogar schon eine „demokratie-skeptische Vision des (Klima‑)Politischen“ aufziehen (Voß 2023 o. S.). Dass sich die Auseinandersetzung um die Bearbeitung von Krisen stärker denn je um epistemische Aspekte (also Fakten, Evidenzen) bzw. deren Leugnung dreht, ist für die politische Austragung von Konflikten hochgradig relevant. Im Gegensatz zu Interessen- oder Verteilungskonflikten, die zur Verhandlung von Kompromissen einladen, geht es bei Wissenskonflikten, so Bogner (2022: 19), um die alles entscheidende Frage, wer „Wahrheit“ für sich reklamieren kann: „Kompromisse sind kaum mehr möglich, wenn unübersichtliche politische Konflikte durch Rekurs auf überlegene Einsicht und Vernunft geschlichtet werden sollen – sei es jene der Wissenschaft oder aber der Hausverstand der radikalen Wissenschaftskritiker“ (Bogner 2022: 19). Was bedeutet all dies nun für die wissensintensive wie politische Praxis der Raumplanung? Verstanden als Handlungskoordination unter nicht vorauszusetzendem Konsens (vgl. Scharpf 1973) vermittelt Planung immer schon zwischen raumbezogenem Wissen und planungspolitischen Zielen. Gleichwohl verändern sich die epistemischen Grundlagen der planungspolitischen Zielformulierung, sowohl auf abstrakter, der Planung vorgelagerter Ebene als auch auf der Ebene der konkreten planerischen Praxis. So projizieren Wiechmann, Buße von Colbe, Jenssen et al. (2024: 24) in einem von vier Szenarien zur Zukunft der Planung, dass Planung künftig vor allem mit der Validierung automatisierter Raumanalysen befasst sein wird. Doch wenn Computermodelle und Simulationen die „dominante epistemische Form dar[stellen], mittels derer Mensch-Umwelt-Beziehungen erforscht und gewusst werden“1, wirft das für die politische Praxis der Planung Fragen auf. Hinsichtlich KI-gestützter Modellierung und Verrechnung von Geo- und Landnutzungsdaten hätte ein radikal gedachtes „Follow the Science“ oder gar „Follow the Tech Giants“ das diskussionswürdige Potenzial, Planung im Namen einer „rationalen“ Modellierung konkurrierender Raumnutzungen zu entpolitisieren. Und zwar insofern, als dass planerische Entscheidungen perspektivisch primär „aus den Daten heraus“ legitimiert werden – wo es doch einer planungspolitischen Aushandlung gemeinwohlorientierter Raumentwicklungsziele bedarf. Im Kontrast zu derlei technizistisch geblackboxten Formen der Produktion planungsrelevanten Wissens stehen die zuletzt auch planungswissenschaftlich intensiv diskutierten urbanen Reallabore (z. B. Räuchle/Stelzer/Zimmer-Hegmann 2021). Diese haben den Anspruch, experimentell und „auf Augenhöhe“ zu evidenzbasierter Transformation beizutragen. Die Anerkennung verschiedener, eigensinniger Wissenslogiken ist in diesem Ansatz zentral. Auch hier stellt sich auf abstrakter Ebene der Epistemisierung des Planungspolitischen die Frage, inwiefern derlei experimentelle Formate der Wissensgenerierung gegenüber der sich abzeichnenden „New Urban Technocracy“ (Raco/Savini 2019) bestehen werden. Doch auch auf der Ebene der Planung selbst zeigt sich, wie planerische Probleme als epistemische Probleme reformuliert werden. So lässt sich in der Austragung von Planungskonflikten eine zunehmende Skepsis gegenüber planerischem Fachwissen beobachten. Das Fachwissen der früher so genannten Fachleute wird in Frage gestellt, etwa von Bürgerinitiativen, die sich auf ihr Erfahrungs- und Betroffenenwissen berufen. Derlei Konflikte um die Anerkennung epistemischer Asymmetrien werden sich im Lichte der oben genannten computergestützten Modellierung raumbezogenen Wissens verschärfen – und das ist mindestens eine praktische Herausforderung für die Gestaltung einer kooperativen Planung. Was sich schließlich ebenso abzeichnet, ist, dass im Zuge des politischen Imperativs der Planungsbeschleunigung deliberative Modi der Planungsqualifizierung durch Beteiligung tendenziell beschnitten werden, sei es im Sinne des von Mieterverbänden geforderten Verzichts auf Bebauungspläne beim Sozialwohnungsbau oder bei der zur Diskussion stehenden sogenannten Bauturbo-Norm § 246e BauGB2. Zugespitzt formuliert ist davon auszugehen, dass zwischen deliberativer Planqualifizierung einerseits und technokratischer Planerfüllung andererseits, intensiver über angemessene Formen und Zeitaufwände der Produktion planungsrelevanten Wissens gestritten werden wird. Angesichts derlei umstrittener Formen der Produktion planungsrelevanten Wissens kann eine vorläufige Schlussfolgerung lediglich sein, die planungswissenschaftliche Sensibilität für die verschiedenen Rationalitäten auszubauen, die in der planerischen Praxis zum Tragen kommen. Eine solche Sensibilität für Polyrationalität ist sowohl im Interesse der eigenen Fachentwicklung wie im Interesse der inter- und transdisziplinären Anschlussfähigkeit der Planungswissenschaft. Dass sich in der Planung verschiedene Rationalitäten überlagern, ist in der deutschsprachigen Planungstheorie spätestens seit Klaus Selles Vorschlag eines „Schichten-Modells“ der Planung (Selle 1995) weitgehend anerkannt (vgl. Fürst 2005; Levin-Keitel/Behrend 2022). Der perspektivische Inkrementalismus ist ein Paradebeispiel für die dialektische Entwicklung von Planungsverständnissen. Polyrationalität durchdringt aber nicht nur Denkschulen, sondern zentrale Verfahren der Planung selbst. So weisen etwa Gailing und Moss (2018: 776) der planerischen Abwägung treffend eine „Zwitterstellung“ zwischen rational-expertokratischer und kommunikativer Gemeinwohlermittlung zu. Mit Bäcklund und Mäntysalo (2010: 348) ließe sich diese „complex reality of planning where […] different actors in producing and managing valid knowledge coexist and compete with each other“ auf den Begriff der „institutional ambiguity“ bringen. Wie Planung mit dieser sich im Lichte der oben genannten Beobachtung verschärfenden „institutional ambiguity“ umgehen kann, ist eine genuin planungswissenschaftliche Frage. Um die Polyrationalität der planerischen Verarbeitung verschiedenster Wissensbestände sowie die hierfür erforderlichen Kompetenzen zu untersuchen, ist das kleine Fach der Planungswissenschaft auf inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen. Und hier bestehen Chancen. Aussichtsreiche interdisziplinäre Anknüpfungspunkte finden sich beispielsweise in der Anthropologie. Letztere hat ein starkes Interesse an Wissenspraktiken von (Stadt‑)Verwaltung (z. B. Niewöhner 2014), der Modellierung von Mensch-Umweltbeziehungen (z. B. Niewöhner 2019) oder der rechtsanthropologischen Analyse von Wissensformen städtischer Governance (z. B. Valverde 2011). Für die transdisziplinäre Untersuchung der planerischen Handhabung umstrittener Wissensformen gilt es den Vorteil zu nutzen, dass Planungswissenschaft mit der planenden Verwaltung über ein berufsständisches Gegenüber verfügt. Ein beiderseitiges Interesse an Polyrationalität bzw. konkurrierenden Modi der Wahrheits- und Wissensproduktion darf man unterstellen. Jenseits der akademischen Diskussion über die Problematik eines weiten oder engen Wahrheitsbegriffs sollte es darum gehen, Effekte multipler Wahrheiten und Formen der Wissensproduktion auf der Ebene der Planung selbst zu untersuchen. Die Auswirkungen von Polyrationalität bzw. der Epistemisierung des Planungspolitischen auf die (Ent‑)Politisierung von Planung wären ein solcher Forschungsgegenstand.