Anafora (Jan 2021)
Tabubruch als Strategie? Zur Demenz-Darstellung in Tilman Jens’ Demenz. Abschied von meinem Vater (2009)
Abstract
Tilman Jens schildert in Demenz. Abschied von meinem Vater (2009) den geistigen Verfall seines Vaters Walter Jens. Im Rahmen dieser autobiographischen Erzählung stilisiert sich der Autor als Tabu-Brecher, da der Demenz, so Jens, ein stigmatisierender Moment innewohne. Fraglich ist, ob Tilman Jens tatsächlich als Vorreiter der deutschsprachigen Demenzliteratur betrachtet werden kann. Die Reaktionen des überregionalen Feuilletons mögen diese zentrale These auf den ersten Blick bestätigen. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit Jens’ Text sowie den Verrissen des Feuilletons genauer auseinander und möchte zeigen, dass nicht die Thematisierung der Demenz, sondern vielmehr die Darstellungsweise der prominenten Persönlichkeit Walter Jens ethische Bedenken auslöst. Vor diesem Hintergrund wird einleitend das Tabu-Verständnis nach Sigmund Freud für die Analyse fruchtbar gemacht, um erstens festzustellen, ob und inwiefern Jens ein Tabu bricht. Darauf aufbauend geht der Beitrag zweitens der These nach, dass vor allem die Schilderung des krankheitsbedingten Gedächtnisverlustes eines prominenten Intellektuellen wie Walter Jens der eigentliche Skandal ist, während vergleichbare Demenznarrative lobenswert besprochen werden. Im Licht des dementen Walter Jens erweist sich Thomas Manns Überlegung, es komme darauf an, wer krank sei, als ausgesprochen aktuell.
Keywords