Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Jan 2013)
Surprise Without a Cause?. ‘False Recapitulations’ in the Classical Repertoire and the Modern Paradigm of Sonata Form
Abstract
False recapitulations are often cited as a hallmark of Joseph Haydn’s sonata-form style, exemplifying perhaps better than any other technique the composer’s witty and subversive engagement with formal conventions. However, closer scrutiny reveals that the concept of false recapitulation is based on a number of different, partially incompatible cognitive, intentional, theoretical, and historical criteria. In an attempt to reconstruct the horizon of expectations of historical listeners, I shall essentially draw on two sources: the compositional practice of the time as reflected in a preliminary repertoire study and contemporaneous theoretical writings. In a nutshell, I shall argue that the analytical practice of framing a double return in the development section in terms of a play with listener expectations is based on the anachronistic assumptions of what I call the “modern paradigm of sonata form”. Placing expectations at the center of analysis and scrutinizing its complex preconditions allows us to arrive at a refined understanding of Haydn’s (and others’) usage of supposedly false recapitulations. Falsche Reprisen werden gerne als ein wesentliches Kennzeichen von Joseph Haydns Sonatenformen angeführt; sie exemplifizieren vermutlich besser als jede andere Formstrategie die „witzige“ und subversive Auseinandersetzung mit formalen Konventionen. Allerdings zeigt eine gründliche Prüfung, dass das Konzept der falschen Reprise auf einer Reihe unterschiedlichster, teils inkompatibler Kriterien kognitiver, intentionaler, theoretischer und historischer Art beruht. Bei dem Versuch einer Rekonstruktion des Erwartungshorizontes historischer Hörer stütze ich mich im Wesentlichen auf zwei Quellen: die kompositorische Praxis der Zeit, wie sie sich in einer vorläufigen Repertoirestudie widerspiegelt, sowie historische musiktheoretische Schriften. Im Kern wird argumentiert, dass die analytische Praxis, die Rückkehr des Hauptthemas in der Grundtonart im Verlauf der Durchführung als ein Spiel mit Hörerwartungen aufzufassen, auf anachronistischen Annahmen beruht, die sich aus dem speisen, was ich als „modernes Paradigma der Sonatenform“ bezeichnen möchte. Der analytischen Fokus auf Hörerwartungen und die genaue Prüfung von deren komplexen Vorbedingungen ermöglicht es, ein wesentlich verfeinertes Verständnis von vermeintlich falschen Reprisen zu erlangen, wie sie von Haydn und seinen Zeitgenossen gebraucht wurden.
Keywords