Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Dec 2021)
“… because there is nothing symbolic in the described phenomenon”. Asafyev’s Intonation Theory in the Early Soviet Union – Analytical Insights, Intellectual Contexts, and Semiotic Perspectives
Abstract
Dieser Beitrag widmet sich der Position des russisch-sowjetischen Musikforschers Boris V. Asaf’ev (1884–1949) in den europäischen musikwissenschaftlichen und -theoretischen Debatten der 1920er-Jahre. Auf der Basis ihrer Grundprinzipien (Kontrast und Wiederholung usw.) und analytischer Einsichten in Kadenzmodelle haben Kommentatoren im Westen Asaf’evs Intonationstheorie häufig als Fortsetzung der Energetik und des Dynamismus gesehen, wie ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts August Halm und vor allem Ernst Kurth begründet haben. Im Gegensatz zur gängigen Haltung untersucht dieser Beitrag einen Aspekt der Theorie Asaf’evs, der sich nicht nur fundamental von seinen vermeintlichen Vorgängern im Westen unterscheidet, sondern gleichermaßen ein originelles Beispiel von Asaf’evs Versuch darstellt, westliche Musikforschung und russisch-sowjetische Debatten miteinander zu verbinden. Dabei wird hier das Argument vertreten, dass Asaf’evs überraschende Ablehnung semiologischer Begrifflichkeit in den Schlusssätzen des 1931 erschienenen ersten Bands der Musikalischen Form als Prozess gestattet, die Intonationstheorie als musikalische Semiotik neu zu fassen. Löst man sie erst einmal aus ihrer politischen (Selbst-)Instrumentalisierung im Stalinismus und interpretiert sie vor dem normativen Hintergrund russischer Musik im 19. Jahrhundert, dann erscheint Asaf’evs Arbeit als Verbindung musikwissenschaftlicher und psychologischer Diskurse mit linguistischen und literaturwissenschaftlichen Überlegungen. Dokumentiert sie so den wahrlich internationalen Geist der Debatten in den 1920er-Jahren und darüber hinaus, liegt die Bedeutung von Asaf’evs Lehre vor allem in der politischen Durchsetzung der Theorie als Modell kompositorischer Praxis in der Sowjetunion und ihrer weiteren globalen Einflusssphäre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. This paper investigates the position of the Russian Boris V. Asafyev (1884–1949) in 1920s European musicology and music theory. Based on the underlying principles of Asafyev’s intonation theory “contrast and repetition,” etc.) and its analytical insights into cadence models, Western scholars have often read it as a continuation of the energeticism and dynamism proposed by August Halm and especially Ernst Kurth. In contrast to Western research, this contribution engages with an aspect of Asafyev’s theory that not only differs profoundly from his more prominent predecessors but also presents an original insight, combining contemporary European discourses and Asafyev’s understanding of Russian music history. Asafyev’s surprising rejection of semiotic terminology in the final paragraphs of his 1931 book Musical Form as a Process allows us to reframe intonation theory as a contribution to musical semiology. Thus, cleansed from its political (self-)instrumentalization in the Stalinist period and interpreted against the normative background of nineteenth-century Russian music, Asafyev’s work appears as a combination of discourses in musicology and psychology, as well as music and literary theory. Besides bearing witness to the truly international spirit of debates during the 1920s and beyond, its significance lies first and foremost in the political enforcement of Asafyev’s theory as a cornerstone for compositional practice.
Keywords