Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (Jan 2016)
Die Entstehung der Entstehung
Abstract
Im Jahr 1968 veröffentlichte Carl Dahlhaus seine Habilitationsschrift Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, die seinen Status als einer der führenden Historiker in Fragen der Musiktheorie zu festigen half. Die Untersuchungen präsentieren eine der umfangreichsten und anspruchsvollsten Erörterungen historischer Theorien der Tonalität, diskutieren ihren Wert und stellen ihnen Analysen der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts gegenüber. Dabei führt Dahlhaus einen manchmal expliziten, oft impliziten Dialog mit einigen anderen (vorwiegend deutschen) Musikwissenschaftlern, die in den zwei Jahrzehnten vor Publikation der Untersuchungen die Frage nach dem Ursprung der harmonischen Tonalität zu beantworten versuchten. Führend unter diesen Autoren war Heinrich Besseler, dessen Monographie Bourdon und Fauxbourdon (1950) die Ursprünge der harmonischen Tonalität bei Dufay und dessen Zeitgenossen ansiedelte. Besselers Schrift brachte viele wichtige Arbeiten hervor, darunter von Rudolf von Ficker und Edward Lowinsky. Dahlhaus’ Untersuchungen sind der Schlussstein dieser lebhaften Debatte. Im vorliegenden Beitrag wird dargelegt, warum die Frage nach der Entstehung der Tonalität für deutsche Musikwissenschaftler, die in den fünfziger und sechziger Jahren schrieben, von so entscheidender Bedeutung war. Abschließend werden einige überraschende Parallelen zwischen Dahlhaus’ Gedanken über die Entstehung der harmonischen Tonalität einerseits und deren Lockerung im späten 19. Jahrhundert, besonders in der Musik Wagners, aufgezeigt. In 1968, Carl Dahlhaus published his »Habilitations«-Dissertation: Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität. The Origins helped to cement the status of Dahlhaus as one of the leading historians of music theory, for it offered one of the most comprehensive and sophisticated examinations of a wide range of historical theories of tonality along with a critical consideration of their value to the analysis of music from the 16th and 17th centuries. Today, the context of Dahlhaus’s monumental book may not be clear to all readers, as it engages in dialogue (sometimes explicitly, often implicitly) with a number of other (mainly German) musicologists who were writing during the two decades immediately preceding its publication about questions related to the origins of harmonic tonality. First among these writers was Heinrich Besseler, whose monograph Bourdon und Fauxbourdon (1950) placed the origins of harmonic tonality squarely on the shoulders of Dufay and his contemporaries. Besseler’s work soon generated many responses, including important works by Rudolf von Ficker and Edward Lowinsky, among many others. In my article, I situate Dahlhaus’s Untersuchungen as something of a capstone to this lively debate. I will conclude with some thoughts as to why the question of tonality’s origins suddenly seemed to have become such a pressing issue of vital importance to German musicologists writing in the 1950s and 60s. At the same time, I will show how Dahlhaus’s analytic thoughts concerning the beginning of harmonic tonality reveal surprising resemblance to his thoughts concerning the loosening of tonality in the late 19th century, particularly in the music of Wagner.
Keywords