Diegesis: Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung (Dec 2016)
Über dieses Heft
Abstract
Erzählungen werden in vielen Lebensbereichen und Handlungsfeldern eingesetzt, um bestimmte Ziele im Rahmen einer mehr oder minder umfassenden Strategie zu erreichen. Dieses „strategische Erzählen” lässt sich teilweise in die rhetorische Überzeugungslehre eingliedern; das Spektrum der möglichen Ziele geht jedoch, wie die folgenden Beiträge zeigen, über die klassische Persuasio hinaus. In Konrads Engelhard dient die Art und Weise des Erzählens – laut Eva Lieberich – einer Vorbereitung des Lesers auf den Umgang mit „neidischer Rede”. Ein ähnlich didaktisch-moralisches Ziel verfolgt das bekannte Samaritergleichnis bei Lukas. Jan Rüggemeier arbeitet hier insbesondere heraus, wie diese Wirkungsintention strategisch an unterschiedliche Rezipientenkreise angepasst wird und so zur kollektiven Identitätsbildung religiöser Gemeinschaften beiträgt. Die Wechselwirkung zwischen Erzähler und Angesprochenem wird in dem Beitrag von Mareike von Müller und Matthias Wermeling vertieft, die zugleich die Brücke von Mittelalter zu Gegenwart schlagen: Sie vergleichen aktuelle Mystories, durch welche Patienten ihren Krankheiten erzählerisch Sinn zu geben versuchen, mit mittelalterlichen Erzählschemata. Bei dieser Art von Mystories zeichnen sich die Grenzen des Erzählens ab, die strategische Narrativierung des Geschehens steht in Spannung zu einer antagonistischen Tendenz, die sich den vertrauten Schemata entzieht. Erstaunlicherweise beobachtet ausgerechnet der ganz in der Kultur der Gegenwart verankerte Beitrag, in dem Nancy Menning und Luke Keller den Dokumentarfilm Journey of the Universe (2011) analysieren, wie eine Mischung von wissenschaftlichen Plausibilisierungsstrategien und eher religiös-mythologischen Topoi die Rezipienten überzeugen soll – was von der ungeminderten Aktualität der klassischen rhetorischen Persuasionsstrategien zeugt. Daneben darf man die innovative Kraft der Frage nach dem strategischen Erzählen innerhalb der Erzählforschung nicht unterschätzen: Während die klassische Narratologie eine Lehre von isolierbaren Formen darstellt, denen verschiedene Funktionen zugeordnet werden können, wechselt durch diese Frage die Perspektive hin zu einer Funktionslehre, innerhalb derer das Erzählen mit anderen kulturellen Formen (dem Gespräch, der Rhetorik, dem Film...) zusammenwirkt, um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen. Ein schönes Beispiel aus der aktuellen Praxis ist das Projekt Lausitz an einen Tisch, ein Erzählsalon, den Ralph Richter und Nepomuk Rohnstock als Mittel der Gemeinschaftsbildung und des Empowerment präsentieren. Die Analyse des Beitrags von Erzählungen zu gegebenen umfassenden Strategien wird vielleicht sogar der Dynamik kultureller Erfahrungen – sei es traumatischer, politischer oder ästhetischer Art – besser gerecht als die Erforschung von Erzähltexten, bei der das Nicht-Narrative nur als Kontext berücksichtigt wird; so sieht es zumindest Mieke Bal, deren Arbeit sie von den narratologischen Kategorien zu einer ganzheitlicheren Auseinandersetzung mit kulturellen Diskursen und Praktiken geführt hat.Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende und ertragreiche Lektüre!