Zeitschrift für Praktische Philosophie (Aug 2022)

Die epistemische Ambiguität der Verwundbarkeit

  • Mariana Teixeira

DOI
https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.6
Journal volume & issue
Vol. 9, no. 1

Abstract

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Angesichts der angeblichen axiologischen Neutralität des Wissens, die in Teilen der Wissenschaft proklamiert wird, bieten seit langem mehrere philosophische Strömungen verschiedene Darstellungen der internen Verbindung zwischen Wissen und Machtverhältnissen. Diese reiche Geschichte umfasst Beiträge u. a. aus dem Poststrukturalismus, dem Marxismus, der Kritischen Theorie, den Decolonial und Critical Race Studies, dem Feminismus und den Theorien der epistemischen Ungerechtigkeit. Trotz ihrer vielen theoretischen Divergenzen stimmen sie alle mit der grundlegenden diagnostischen Prämisse überein, dass Machtungleichheiten eine bedeutsame Rolle bei der Definition dessen spielen, was als „Wissen“ zählt, und dass infolgedessen sozial und politisch unterdrückte Gruppen dazu neigen, auch im Bereich der epistemischen Praktiken wie der Systematisierung, Legitimierung und Übertragung von Wissen unterdrückt zu werden. Diese Kritiker:innen einer positivistischen Objektivität des Wissens haben jedoch sehr unterschiedliche Ansichten über die Wurzeln, die Auswirkungen und das Funktionieren der Verbindung zwischen epistemischen Praktiken und Machtungleichheiten. In diesem Beitrag wird eine dieser Differenzen untersucht, nämlich in Bezug auf die Frage: Bedeutet soziale und politische Unterdrückung notwendigerweise, dass die betroffenen Subjekte im Vergleich zu privilegierten Gruppen in einer schlechteren Position sind, um ihre Unterdrückung zu verstehen und ihr Widerstand zu leisten? Zwei möglichen Antworten auf diese Frage werden hier unter Rekurs auf eine Gegenüberstellung von Miranda Frickers Theorie der epistemischen Ungerechtigkeit einerseits und der feministischen Standpunkttheorie von Dorothy Smith andererseits untersucht. Während der erstgenannte Ansatz Unterdrückung vor allem als epistemisch und politisch schwächend ansieht, betrachtet der letztere die einzigartige Position der Unterdrückten als potenzielle Quelle von Wissen und politischem Handeln. Diese Gegenüberstellung wird eine Kritik einseitiger Darstellungen der Erfahrung von Unterdrückung ermöglichen. Eine Vermittlung zwischen den Polen dieses Gegensatzes wird anschließend durch das Konzept der Verwundbarkeit versucht. Um angesichts der Mehrdeutigkeit des Konzepts genauer zu bestimmen, was mit „Verwundbarkeit“ gemeint ist, wird eine analytische Unterscheidung zwischen Verwundbarkeit als einerseits konstitutiv und andererseits kontingent getroffen. Die Hypothese ist, dass ein vielschichtiges Verständnis von Verwundbarkeit – zeitgleich als kontingentes Risiko der Unterwerfung unter die Fremdheit und als konstitutive Öffnung zum Anderssein – ein wichtiges konzeptionelles Instrument sein kann, um die epistemischen und politischen Ambiguitäten sozialer Ungerechtigkeiten zu erfassen.

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